Artikel-WissenschaftEs scheint, als bräuchten wir heutzutage für jede kleinere oder größere Sache eine “wissenschaftliche Studie”, ansonsten werden Erkenntnisse als Wissen nicht anerkannt. Die direkte Wahrnehmung zählt scheinbar nichts mehr. Zudem trauen wir uns selbst als “nicht Fachmann” oft im Ansatz gar nicht mehr zu, wirklich was zu wissen, richtig? Dieses Prinzip schafft natürlich den besten Nährboden für Industrie und Wirtschaft, uns den größten Mist teuer zu verkaufen.

Ich möchte jetzt hier mal die Schlüsselbegriffe “Wissen” und vor allem das oft bemühte Wort “Wissenschaftlichkeit” und “Wahrnehmung” etwas unter die Lupe nehmen.

 

Wissen und verstehen

Gerade vor kurzem hatte ich in einem Gespräch mit einer neuen Bekanntschaft realisiert, dass ich mittlerweile mit einer völlig anderen Definition von “verstehen” und “Wissen” durch das Leben gehe. Dies liegt zweifelsohne an den speziellen Methoden der Praxis, die ich mir für mein Leben ausgesucht habe.
In unserer Taiji-Schule “Chen Stil Taijiquan Practical Method” z.B. gilt nur das als wirklich verstanden, was man auch praktisch umsetzen kann. Reines Kopfwissen spielt keine Rolle. Und in der Theravada Tradition des Buddhismus hat eine große Lehrerin mal sehr schön gesagt, dass das, was die Lehre des Buddhas zu bieten hat, auch wirklich erlebt werden muss. Reines glauben bringe überhaupt nichts.
Diese beiden Beispiele zeigen schon recht deutlich, dass die hier zugrundeliegende Definitionen von Wissen und verstehen der in unserer Gesellschaft üblichen schon kräftig widersprechen. Wir assoziieren normalerweise mit diesen beiden Begriffen rein intellektuelle Kopf-Arbeit. Hier geht es aber um das erfassen von Dingen mit (idealer Weise) unserem ganzen Wesen. Mindestens jedoch sollten Dinge nicht nur logisch verstanden, sondern auch auf die eine oder andere Art gespürt bzw. erlebt werden.

 

Reinigung der Sinne

Hier taucht ein relativ schwieriges Problem auf. Es gibt gute Gründe, warum wir unsere eigenen Wahrnehmung kritisch untersuchen sollten. Das Ziel ist schon, wieder mehr auf sich und seinen eigenen Körper hören zu können, doch wir müssen lernen zu unterscheiden, welchen Kräften unsere Sinne gerade unterstehen.
Meister Chen Zhonghua sagte mal: “Don’t rely on what you think, and don’t rely on what you feel.”
Ich denke, dies ist einer der am meisten marginalisierten Sätze unseres Lehrers. Hier wird es nämlich ziemlich ungemütlich, wir müssen uns selbst hinterfragen und unsere Sinne und Wahrnehmung klären. Gewohnheiten und herkömmliches Wissen, was meistens nichts anderes ist als Theorien und Konzepte, also letztlich nur Meinungen, aber auch Gelüste und Süchte bestimmen zum großen Teil unsere Sinne und die gesamte Wahrnehmung.
Stünde unser Körper völlig gereinigt ganz im Dienste der Königin Seele, wie in der von Yogananda kommentierten Ausgabe der Bagavad Gita aus dem alten Indien schön veranschaulicht, dann hätten wir wahrscheinlich nur noch Appetit auf gesunde Sachen und auch keine Lust mehr, uns die Nächte um die Ohren zu schlagen. Dem ist aber oft nicht so. Lust auf Zigaretten, Schokolade, Alkohl oder Kaffee zeigen da deutlich in eine andere Richtung, um nur ein paar Beispiele zu geben.

Je mehr wir jedoch wieder in Kontakt kommen mit unseren wahren, oft schon längst verdeckten oder verdrängten Bedürfnissen, und je mehr wir uns dadurch von unseren Gelüsten und Süchten befreien können, desto mehr werden uns unsere Gefühle, und z.B. auch unser Geschmack und Appetit, das anzeigen, was wir auch tatsächlich brauchen. Vor solch einer Reinigung der Sinne wird dies aber auch oft gerade das Gegenteil sein.

 

Unser Körper – Forschungslabor und Messinstrument

Es gibt zahlreiche Übungswege, welche den Anspruch hegen, genau diese Dinge zu kultivieren. Doch egal, für welche dieser Wege wir uns interessieren, wir sollten die Qualität der einzelnen Schule gut prüfen und sehen, dass die Methoden auch wirklich ganzheitlich geblieben und nicht zu irgendeinem Einzelaspekt verkommen sind. Yoga sollte z.B. viel mehr sein als nur Dehnübungen, und Qigong sollte mehr sein als eine schön anzusehende Gymnastik. Die Methoden sollten uns auf dem Weg zur Selbstkultivierung begleiten, d.h. unter anderem, uns in dem oben skizzierten Klärungsprozess begleiten und uns somit befähigen, Eigenverantwortung zu übernehmen und selbst herauszufinden, was gut für uns ist. Die Methoden sind Werkzeuge, mit denen wir das ganze Haus bauen können.

Qigong und Meditation, aber auch mehr physische und technische Methoden wie unser Chen Stil Taijiquan Practical Method, leiten permanent die Aufmerksamkeit nach innen, was wir sonst im Alltag recht selten tun. Deshalb sind wir auch oft so blind, was unsere eigenen Bedürfnisse angeht. Wir arbeiten unter Umständen bis über alle Grenzen, so dass wir schließlich krank werden. Oder wir üben jahrelang Tätigkeiten aus, welche unseren eigenen Grundüberzeugungen kräftig widersprechen. Auch wenn diese Überzeugungen im völligem Einklang mit den Weisheitslehren stehen sollten, so vertrauen wir doch lieber dem Mainstream und den etablierten Wissenschaften unserer Zeit.

Anstatt zum Beispiel in Gesundheitsfragen auf die neueste “medizinische Studie” zu hören, welche zu über 90 prozentiger Sicherheit von Pharmaunternehmen finanziert und aufgesetzt ist, täten wir besser daran, mithilfe einen dieser Praxiswege uns selbst ein Stückchen zu klären und wieder auf unseren Körper zu hören. Und die ersten, aus jetzige Sicht eventuell bahnbrechenden, Erkenntnisse würden nicht allzu lange auf sich warten lassen – wenn wir es Ernst meinen und uns eine gute Schule suchen.

 

Meine eigene Erfahrung

Ich war 28 Jahre alt, hatte die Jahre davor das Ziel verfolgt, Berufsmusiker zu werden, bin ein paar Jahre lang nebenbei pro Woche 2-3 Nachtschichten Taxi gefahren und hatte mich hauptsächlich von Junk-Food, Kaffee und Bier ernährt. Wasser trinken war mir eher fremd und ich hatte alle 3 bis 4 Tage einen neuen Beutel Tabak gekauft. Um 10 Uhr aufstehen war für mich schon ziemlich früh.

Das alles reicht schon aus um zu erklären, warum ich damals alle Energie, jeglichen Antrieb und alle Inspiration verloren hatte. Soweit nichts ungewöhnliches. Das Besondere ist passiert, nachdem ich angefangen hatte, Chen Taijiquan und Qigong zu üben. Schon nach kurzer Zeit hatte ich keine Lust mehr auf Zigaretten und Alkohol. Es ist einfach abgefallen, diese Gelüste mussten dem höherwertigem Bedürfnis nach Wasser und einer sauberen Lunge weichen.
Der Schlüssel lag für mich eindeutig im erleben. Ich habe meinen Körper angefangen, viel direkter zu spüren. Heute erscheint es mir im wahrsten Sinne des Wortes sehr verrückt, auf eine andere Idee zu kommen, als stilles Wasser zu trinken, wenn man Durst hat. Mehr noch, unsere Gewohnheiten und unser Konsumverhalten können es sogar schaffen, unser Durstgefühl komplett verschwinden zu lassen …

Mir geht es hier natürlich nicht ums Wasser trinken, dass ist nur eines von unzähligen Beispielen. Es geht um das dahinter liegende, universelle Prinzip! Wenn man in solch einer Situation immer noch Lust hat auf die nächste Zigarette, den nächsten Kaffee oder das nächste Bier, vielleicht noch Appetit auf eine Tafel Schokolade etc, dann kann man doch eindeutig sagen, dass unsere Sinne uns nicht das anzeigen, was uns jetzt auch wirklich gut tut, sondern das genaue Gegenteil. Es lohnt sich ganz bestimmt, diese Dinge weiter in der Tiefe zu ergründen, doch für hier reicht es mir aus aufzuzeigen, dass sich diese Gelüste in absehbarer Zeit ändern können.

 

Wahre Wissenschaft

Solche Vorgänge und Erfahrungen, das sind im wahrsten Sinne des Wortes die wissenschaftlichsten Studien, die wir machen können.
Sobald wir nur die Richtung geändert haben und uns über die Absicht klar sind, dass wir wieder zurück zu unseren eigentlichen, wahren Bedürfnissen wollen, ab diesem Zeitpunkt werden die Erfahrungen, die wir mit und in uns selbst machen, zu dem wissenschaftlichsten Akt, den wir uns vorstellen können.

Hier ist das Potential für direktes Erleben und klare Erkenntnis. Doch es ist ein Weg, ein Prozess, permanente Forschung, immer in Bewegung. Wer einfache und immer gültige Rezepte sucht, wird hier nicht zufrieden gestellt werden. Die Frage nach dem, was jetzt gerade gut und richtig ist, kann man nicht immer allgemeingültig beantworten. Sicher: Wasser ist für uns alle immer gut, und viele andere Dinge mögen allgemein gültig sein. Wie z.B. das wir die Sonne brauchen und chemisch vergiftetes Essen nicht so günstig ist.

 

Schlussplädoyer

Leider muss ich im Alltag immer wieder feststellen, wie sehr die meisten Menschen für die natürlichsten Dinge als Beleg für Gültigkeit immer noch auf medizinische Studien angewiesen sind. Das Vertrauen oder auch die Fähigkeit der eigenen Wahrnehmung scheint oft völlig zerstört zu sein, der Kontakt zu uns selbst und unserer eigenen Natur quasi nicht vorhanden.
Dieses zu ändern erachte ich als eines der dringendsten Angelegenheiten unserer Zeit. Wir würden in Folge automatisch auch viel besser mit unserem sozialen Umfeld, aber auch mit allen Ressourcen und der Natur, umgehen.
Solange diese Dinge aber nicht am eigenen Leibe erfahren worden sind, also dies alles nur im Kopf stattfindet, werden die nötigen Erkenntnisse und die daraus folgenden Veränderungen ausbleiben.

Oder um die altbekannte Formulierung zu benutzen: Wir können die Welt nicht ändern, doch wir können uns selbst ändern. Als Folge dessen wird sich auch die Welt ändern.

Ich hoffe, dass hier die eine oder andere Inspiration für Dich dabei war. Jegliche Diskussion zu dem Thema ist mir hier herzlich willkommen.

Über Wissen und Wissenschaftlichkeit
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2 Kommentare zu „Über Wissen und Wissenschaftlichkeit

  • 3. April 2016 um 17:11 Uhr
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    Ein wirkliches großes und wichtiges Thema – der Unterschied zwischen Wissen und Verstehen. Wenn Meister Chen Zhonghua sagt: “Don’t rely on what you think, and don’t rely on what you feel”, dann bezieht sich das auf körperliche Aktivität, in unserem Falle Taiji, in dem für Denken oder Gefühle im Moment der körperlichen Ausführung kein Platz ist. Warum? Wer öfter mit dem Auto fährt, kann das leicht nachvollziehen. Während ich mit dem Auto durch die Stadt fahre fliegt ein Ball auf die Straße – in welcher Reihenfolge reagiere ich? Als erstes tritt der Fuß auf die Bremse, dann bekomme ich einen Schreck und zuletzt beginne ich darüber nachzudenken, was gerade passiert ist. Die körperliche Wahrnehmung ist die schnellste, erst dann kommen Gefühl und zuletzt der Verstand. Und genau so soll es im Taiji sein, die körperliche Wahrnehmung muss unmittelbar erfolgen.
    Dies bedeutet aber nicht, dass die Wahrnehmungen oder Aktivitäten des Verstandes oder der Gefühle in irgendeiner Form minderwertiger als die des Körpers sind, ganz im Gegenteil. Uns Menschen stehen, grob gesagt, drei Funktionen der Wahrnehmung zur Verfügung: Verstand, Gefühl und körperliche Empfindungen, das Spüren von Druck, Temperatur, Schmerz, etc. Es ist sehr wichtig diese körperlichen Empfindungen im Sprachgebrauch nicht mit Gefühlen zu vermischen. Auch in der sonst so genauen englischen Sprache führt die unscharfe Verwendung der Worte “sensing” und “feeling” oft zu Verwirrung. Dies ist auch ein gutes Beispiel für intellektuelle Wahrnehmung. Der Körper oder die Gefühle helfen dabei nicht, nur der Verstand kann die unterschiedliche Bedeutung von Worten wahrnehmen, eine Fähigkeit, die zu kultivieren, gerade in unserem Informationszeitalter, überaus wichtig ist. Und es gibt Dinge und Beziehungen, die nur emotional zu verstehen sind. Man muss das Gefühl von Liebe kennen, um einen Liebenden verstehen zu können etc. Gleiche Gefühle geben uns gleiches Verstehen.
    Es dürfte klar sein, dass wir auf keine der drei Wahrnehmung-Funktionen verzichten können, wenn wir vollständige Menschen sein möchten. Und wir alle kennen die extrem einseitigen Typen: der Körpermensch, getrieben von Instinkten und körperlichen Vergnügen, andere, die vollständig in ihren Gefühlen leben – himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt und andere, die völlig verkopft und gedankenversunken durchs Leben gehen, großes Wissen in ihren Hirnen tragen, aber nichts wirklich verstehen, wie viele unserer modernen Experten.
    Vollständiges Verstehen heißt demnach gleichzeitig mit Verstand, Gefühl und Körper wahrzunehmen und dazu muss man alle drei Bereiche permanent kultivieren.

    • 4. April 2016 um 9:32 Uhr
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      Vielen Dank für den Kommentar, Frank.
      Zu dem Zitat von Meister Chen: “Don’t rely on what you think, and don’t rely on what you feel.” sei noch angemerkt: Das Problem, welches unser Meister immer wieder thematisiert hat ist, dass wir alles, was wir wahrnehmen, interpretieren. Vor allem gut gebildete Erwachsene haben dieses Problem und können schon bei der ersten Wahrnehmung nicht anders. Wir sollten diese Worte, nach meinem Verständnis, für den gesamten Lern- und Trainingsprozess des Taiji-Trainings im Sinn haben, nicht nur für den Moment einer “echten Anwendung”.
      Und echtes verstehen und echtes Wissen geht einher mit “machen können”. Auch dies hat Meister Chen immer wieder recht unmissverständlich kundgetan.

      Eigentlich ist dies ja auch ein Thema für sich, ursprünglich geht es mir in dem Artikel hier darum, wieder ein gesundes und natürliches Gefühl für direkte Selbst-Wahrnehmung zu bekommen. Da kommt man an diesem Thema aber nicht vorbei, da unsere Sinne durch Paradigmen, Gewohnheiten und Erziehung (incl. Werbung u.ä.) total verwirrt sind. Diese zu klären ist keine einfache Angelegenheit.

      Ansonsten vielen Dank für die weiteren Ausführungen. Diskussion über alle Punkte ist immer sehr willkommen.

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